Montag, 5. März 2007

Die „DIN 77800 - Betreutes Wohnen“ und ihre Bedeutung für die Immobilienwirtschaft

Dipl. Kfm. Dr. Erich Limpens
Rechtsanwalt Dr. Lutz H. Michel

1. Betreutes Wohnen – Ausgangslage und Rahmenbedingungen für die Norm

„Die Zahl der 60-Jährigen wird mit gut einer Million im Jahr 2050 doppelt so hoch sein wie die Zahl der Neugeborenen[…]“, so lautet eine der Kernaussagen der 11. zwischen dem Statistischen Bundesamt und den Statistischen Ämtern der Länder koordinierten Bevölkerungsvorausberechnung[ii].

Der demographische Wandel ist nicht mehr aufzuhalten und wird in den nächsten Jahren zu gravierenden Verwerfungen in unserer Gesellschaft und so auch in der Immobilienwirtschaft führen. Mit der „demografischen Schere“ – die Bevölkerung in Deutschland nimmt in den nächsten Jahren und Jahrzehnten rapide ab und sie altert – ergeben sich für die Städte und Gemeinden gravierende Probleme in Hinblick auf die Regional- und Stadtentwicklung wie aber auch für die Immobilienwirtschaft tief greifende Auswirkungen auf Konzeptions- und Investitionsentscheidungen[iii].

Die Marktsituation für Wohnimmobilien erfährt einen rapiden Wandel: die älter werdende Bevölkerung benötigt neue nachhaltige Wohnangebote und –formen, was für Entwickler wie auch Investoren neue Herausforderungen wie auch Chancen eröffnet. Die planerischen, standortbezogenen, politischen wie immobilienwirtschaftlichen Rahmenbedingungen ändern sich rapide und die Antworten auf die Fragen an eine nachhaltige Immobilienprojektentwicklung aus ökonomischer und auch ökologischer Sicht, die die Bedürfnisse unserer älter werdenden Bevölkerung berücksichtigt, werden drängender[iv]. Schon jetzt werden die Nachfrage und das Angebot im Bereich der SeniorenImmobilien immer differenzierter.

Der Anspruch an die sog. Seniorenimmobilien ist ein anderer geworden. Man handelt nicht mehr reaktiv, sondern will vorsorgen. Die Lebenserwartung und auch die zu erwartende Lebensqualität haben sich sehr zum Positiven gewandelt und geben älteren Menschen die Möglichkeit, den Lebensabend selbst zu planen und zu gestalten: Es wird immer unwahrscheinlicher, dass sich ein älter werdender Mensch freiwillig in ein Alten- oder Pflegeheim begibt. Aufgrund dieser Trends entstanden in letzten Jahren verschiedene Wohnformen für Senioren, die sich nicht länger auf die „Unterbringung mit Pflege“, sondern vielmehr auf die Erhaltung der Selbständigkeit ihrer Bewohner konzentrieren.

Im Mittelpunkt steht hier das „Betreute Wohnen“. Die Begrifflichkeit war und ist nach wie vor schillernd, da es keine durchgängig anerkannte Definition gab und gibt. Unter die erwähnten Bezeichnungen wurden von Anbietern von Wohnraum so unterschiedliche Wohnangebote wie Altenwohnheime, Seniorenresidenzen, an Pflegeheime angegliederte Pflegewohnungen, „normale“ Wohnungen, die mit einem mehr oder minder inhaltsleeren Servicevertrag mit einem Dienstleister Sicherheit im Alter versprachen aber auch unverkäufliche und sodann „umgelabelte“ Eigentumswohnungen und andere „Mogelpackungen“ gefasst[v].

Dies und die Tatsache, dass sich der Begriff „Betreutes Wohnen“ qua lege nur in einer gesetzlichen Norm, nämlich dem Heimgesetz, und zwar in Abgrenzung zur so genannten „heimmäßigen Unterbringung“ in § 1 HeimG findet, war für den Verbraucherrat beim DIN Deutschen Institut für Normung e.V. im Jahr 2001 der Auslöser, ein Normungsvorhaben aufzusetzen, dessen Ergebnis die DIN 77800 „Qualitätsanforderungen an Anbieter der Wohnform ‚Betreutes Wohnen für ältere Menschen’“ ist. An diesem Normungsvorhaben waren Experten aus Verbän­den, Hochschulen, Beratungseinrichtungen, kirchlichen Betreuungs­organi­­sa­tio­nen sowie in diesem Bereich tätigen Dienst­leistungsanbietern beteiligt.

Ziel war die Erarbeitung einer als Zertifizierungsgrundlage geeigneten DIN-Norm – und zwar als Dienstleistungs-Norm, nicht als Produktnorm, um allen beteiligten Wirtschaftskreisen – von den Nutzern/Bewohnern über Projektentwickler, Investoren und Finanziers bis hin zu den Betreibern – bundesweit einheitliche, verbindliche Anforderungen, Hinweise und Empfehlungen in Bezug auf diese Wohnform zu geben. Der Charakter der Norm als "Dienst­leistungs-Norm" bedeutet, dass nicht bauliche Anforderungen den Schwerpunkt bilden, sondern die unter den Begriff Betreutes Wohnen zu fassenden komplexen Dienstleistungen. Die Norm wurde am 03.04.2006 vom Normenausschuß verabschiedet und im September 2006 veröffentlicht[vi].

Um die Norm handhabbar für die Zertifizierung zu machen, wurde 2005 der Zertifizierungsausschuss Betreutes Wohnen einberufen, der ein Zertifizierungsprogramm entwickelte, das seit Herbst 2006 als Grundlage für die Bewertung der Normkonformität von Betreuten Wohnanlagen dient.

2. Die DIN 77800 als Dienstleistungsnorm und Zertifizierungsgrundlage
DIN – Normen sind „Ordnungsinstrumente in der Wirtschaftswelt“. Sie sind Ergebnisse der Normungsarbeit, die mit einem Normungsantrag beginnt, der vom zuständigen Normenausschuss angenommen werden muss, ehe dann die Bearbeitung in einem alle beteiligten Wirtschaftskreise repräsentierenden Gremium, dem Normenausschuss erfolgt, die in ein Offenlegungsverfahren mündet, das in der förmlichen Verabschiedung und Veröffentlichung endet[vii].

2.1 Die wesentlichen Inhalte der Norm
2.1.1 Begriffsdefinition „Betreutes Wohnen“
Ausgangspunkt der Norm ist der Begriff „Betreutes Wohnen“, das die Norm wie folgt definiert: „Leistungsprofil für ältere Menschen, die in einer barrierefreien Wohnung und Wohnanlage leben, das Grundleistungen/allgemeine Betreuungsleistungen und Wahlleistun­gen/weiter­gehen­de Betreuungs­leistungen umfasst“[viii].

Die Norm ergänzt diese Definition durch eine qualitative Abgrenzung zum Heim: „Das Leistungsprofil unterstützt eine selbstständige und selbstbestimmte Haushalts- und Lebensführung und die Einbindung in soziale Strukturen der Haus­gemeinschaft und des Wohnumfeldes. Das Leistungsprofil des Betreuten Wohnens orientiert sich nicht am Heim im Sinne des Heimgesetzes“. Entscheidendes Abgrenzungskriterium zur (gesetzlich geregelten) Wohn­form "Heim" ist damit die Gewährleistung größtmöglicher Wahlfreiheit bei Leistungen und Leistungsanbietern für den Nutzer/Bewohner. Nur die sog. Grundleistungen[ix] sind von den Bewohnern verpflichtend bei einem institutionalisierten Leistungsanbieter in Anspruch zu neh­men.

2.1.2 Regelungskomplexe der DIN 77800
Die Norm weist fünf Komplexe mit Mindestanforderungen für das „normgerechte“ Betreute Wohnen auf. Konstitutiv für das „Wohnprofil“ des Betreuten Wohnens sind die an die Immobilie und den Wohnraum zu stellenden baulichen Anforderungen[x]. Die DIN 77800 fordert, dass der Wohnraum (= die Wohnung) im Sinne der geltenden DIN 18025 Barrierefreie Wohnungen Teil 2 und die Wohnanlage i.S. der DIN 18025 Teil 1 barrierefrei sein muß[xi]. Ferner beinhaltet die DIN 77800 weitere Anforderungen, die Gemeinschaftseinrichtungen und den Standort der Anlage betreffen[xii].

Die Norm enthält ferner detaillierte Anforderungen an die Informationspflichten[xiii], die der Anbieter vor Vertragsschluß zu erfüllen hat. Sie beziehen sich auf die Wohnanlage und die Wohnung, ferner die Grundleistungen sowie die Wahlleistungen. Auch ist über die Kosten, das Betreuungskonzept und über die Grenzen des Leistungsangebotes zu informieren, um Transparenz des Leistungsangebotes zu schaffen.

Im Mittelpunkt der Norm stehen die Anforderungen an die Dienstleistungen[xiv]. Die DIN 77800 geht von der Einteilung in „Grundleistungen“ sowie „Wahlleistungen“ aus. Bei den Grundleistungen sieht die DIN 77800 die Komplexe haustechnischer Service, Notrufsicherung sowie Betreuung vor. In Bezug auf die Betreuungsleistungen wird im Einzelnen die Beratungstätigkeit, die regelmäßige Informationstätigkeit, die Vermittlungs- und Organisationstätigkeit sowie die Förderung sozialer und kultureller Aktivitäten normiert. Daneben stehen die sog. „Wahlleistungen“ bzgl. derer die Bewohner weder zur Abnahme von einem bestimmten Anbieter, noch zur Abnahme der Leistung selbst verpflichtet sind. Die Norm erwähnt u.a. hauswirtschaftliche und pflegerische Hilfen, haustechnische Dienste, Leistungen im Krankheitsfall. Die Grundleistungen sind durch eigenes Personal des Betreuungsträgers, das für die Aufgabe entsprechend qualifiziert sein muß, auf der Grundlage einer vertraglichen Vereinbarung zu erbringen. Dabei muß der Anbieter in der Wohnanlage für die Betreuungsfunktion eine Personalsstärke / -besetzung je Wohneinheit von mind. 0,01 Vollzeitstellen vorhalten[xv].

Die Wahlleistungen kann der Anbieter selbst erbringen, jedenfalls muß er deren Vermittlung als Teil seines Grundleistungskatalogs sicherstellen.

Für eine DIN – Norm untypisch regelt sie zudem Anforderungen an die Gestaltung der Verträge. Betreutes Wohnen ist ein Kombinationsprodukt: Erst die Verbindung von Wohnen und Dienstleistungen stellt Betreutes Wohnen dar. Dies hat zur Folge, daß im Verhältnis zum Nutzer / Bewohner zwei Vertragstypen relevant sind: einerseits der Nutzungsvertrag, der i.d.R. ein Mietvertrag ist, aber nicht zwingend sein muß, da die Norm für alle denkbaren rechtlichen Wohnraumnutzungsgestaltungen gilt[xvi], und der Dienstleistungsvertrag über die Betreuungsleistungen. Sind der Anbieter des Wohnraumes und der Betreuungsträger nicht personenidentisch, so bedarf es der Verbindung zwischen den beiden Leistungsbildern durch einen Kooperationsvertrag[xvii]. Die Anforderungen der DIN 77800 an die Vertragsgestaltung betreffen sowohl das Nutzungsverhältnis, also in der Regel den Mietvertrag, als auch den Betreuungsvertrag bzw. den Servicewohnvertrag und sind einerseits formellen, andererseits materiellen Charakters. Die formellen Anforderungen der Norm an die Vertragsgestaltung betreffen primär Form und Gestalt der Verträge mit den Detailanforderungen gute Lesbarkeit und leichte Verständlichkeit, klare Gliederung und übersichtliche Gestaltung sowie Transparenz der Vertragsregelungen in Bezug auf die Vertragspartner, die Zuordnung von Leistungen in inhaltlicher Art zu den Leistungserbringer wie auch zu den Leistungskategorien, die die Norm regelt. Diese Anforderungen dienen primär dem Schutz des Bewohners in seiner besonderen Situation als älterer Mensch, ggfls im Status altersbedingt reduzierter Fähigkeiten oder Handicaps. Die materiellen Anforderungen der Norm an die Vertragsgestaltung im Betreuten Wohnen haben ebenfalls primär verbraucherschützenden Charakter und dienen dem Ziel der materiellrechtlichen Richtigkeit des Vertragswerks.
Die allgemeinen Anforderungen beinhalten erstens, daß die Vertragsgestaltung einerseits die Regelung des Wohnens und andererseits die Regelung der Dienstleistungen umfasst, wobei Mietvertrag und Betreuungsvertrag sich in der Weise einander bedingen, dass das mietvertragliche Element nicht von dem dienstvertraglichen getrennt werden kann. Zweitens muss in dem Vertragswerk geregelt sein, dass sich das Produkt „Betreutes Wohnen“ materiell zur Heimunterbringung abgrenzt. Das erfordert, daß das Leistungsangebot des Betreuten Wohnens nur die Komponenten Wohnen und Grundleistungen umfasst und der Bewohner die absolute Wahlfreiheit bezüglich der Wahlleistungen in Hinblick auf Leistungen wie auch Leistungserbringer hat. Unabhängig von den strukturellen Anforderungen fordert die Norm eine klare Leistungsbeschreibung, die eindeutige Transparenz bzgl. der Leistungszuordnung und der Vergütungen der Leistungskomponenten. Hierdurch soll Klarheit und Transparenz zwischen den Leistungsangeboten unterschiedlicher Anbieter geschaffen werden. Neben diesen allgemeinen materiellen Anforderungen beinhaltet die Norm besondere Anforderungen. Im Nutzungsvertrag geht es dabei z.B. um die exakte Beschreibung des Nutzungsobjekts und um Aussagen zur baulichen Barrierefreiheit. In Bezug auf den Betreuungsvertrag stellt die Norm Anforderungen hinsichtlich der Preisgestaltung der Grundleistungen, hier im Wesentlichen zur Regelung etwaiger Entgelterhöhungen, und der genauen Bezeichnung des Betreuungsträgers auf.

Ferner regelt die Norm als Qualitätssicherungsmaßnahmen[xviii] einerseits das Instrument der Bewohnerbefragung und andererseits das sog. „Beschwerdemanagement“.

2.2 Die DIN 77800 als Zertifizierungsgrundlage
Ihre wesentliche Relevanz gewinnt die DIN 77800 in ihrer Funktion als Zertifizierungsgrundlage. Jeder Anbieter von Betreutem Wohnen kann durch Antrag bei DIN CERTCO das Prüfungsverfahren initiieren, das bei Erfüllung der Normanforderungen mit der Erteilung des Zertifikats „Betreutes Wohnen – DIN geprüft“ endet.

Dabei gibt es zwei Verfahrens- und Zertifikatstypen: In Betrieb befindliche Betreute Wohnanlagen können sich zertifizieren lassen und das oben erwähnte Zertifikat für eine Dauer von 6 Jahren erwerben. Projekte, bei denen Baugenehmigungsreife vorliegt und die Konzeption steht, können sich präzertifizieren lassen und eine bis 3 Monate nach Inbetriebnahme befristete Konformitätsbestätigung erhalten, daß Planung wie Konzept normkonform sind. Es schließt sich dann die Zertifizierung nach Inbetriebnahme der Anlage an. Das Verfahren ist in dem Zertifizierungsprogramm von DIN CERTCO geregelt[xix].

Das Zertifizierungsverfahren startet mit dem sog. Erstzertifizierungsaudit. Er beginnt mit dem Antrag auf Zertifizierung, der bei DIN CERTCO einzureichen ist. Die Begutachtung durch einen von DIN CERTCO beauftragten und akkreditierten Gutachter beginnt mit der sog. Dokumentenprüfung.

Diese beinhaltet die Prüfung aller vorhandenen schriftlichen Unterlagen bzgl. der oben dargestellten Normkomplexe: Prüfungsgegenstände sind die Gebäude- und Wohnungspläne, das Betreuungskonzept, das schriftliche Informationsmaterial, der Betreuungs-, ggfls. auch der Kooperationsvertrag, der verwandte Mietvertrag, Informationen über das Qualitätssicherungskonzept und die erforderlichenfalls durchgeführte Bewohnerbefragung. Bei der Betrachtung des Betreuungskonzeptes, des schriftlichen Informationsmaterials sowie der Verträge liegt ein besonderes Augenmerk auf den Leistungskatalogen und der klaren Trennung von Grund- und Wahlleistungen. Das Audit vor Ort dient zunächst zur Prüfung der Bereiche Standort, Barrierefreiheit und der weiteren baulichen Anforderungen sowie der Kenntnisse und Qualifikationen der Betreuungskraft. Es dient im Übrigen zur Ergänzung der Erkenntnisse aus der Dokumentenprüfung. Erfüllt die Anlage alle Voraussetzungen der Norm, so gibt der beauftragte Gutachter in seinem Zertifizierungsbericht eine Empfehlung zur Erteilung des Qualitätszertifikats, ggfls. unter Auflagen, das sodann von DIN CERTCO nach Auditierung des Prüfungsberichtes erteilt wird.

Das Zertifikat muss alle 24 Monate durch ein sog. Überwachungsaudit bestätigt werden. Bei diesem ist in jedem Fall eine Dokumentenprüfung und evtl. ein Audit vor Ort notwendig, um die Normkonformität erneut zu festzustellen. Die Verlängerung des Qualitätszertifikats nach Ablauf des 6 – Jahres – Zeitraums setzt ein erfolgreich absolviertes sog. Verlängerungsaudit voraus, das grundsätzlich wie das sog. Erstzertifizierungsaudit abläuft.

Der Zertifizierung kann die sog. „Präzertifizierung“ vorgelagert. Hier wird i.d.R. auf der Basis der Unterlagenprüfung durch ein Gutachterteam (Bau- und Dienstleistungsgutachter) beim Anbieter ein sog. „Präzertifizierungsworkshop zusammen mit dem Entwickler / Investor, den Planern und den Dienstleistern durchgeführt; falls die geplante Immobilie sich bereits im Bau befindet, ist eine Objektbesichtigung Prüfungsteil. Die Prüfung des genehmigungsfähigen Bauantrags ist hier wohl am wichtigsten, da bereits in der Planungs- und Realisierungsphase Fehler behoben bzw. vermieden werden können, die möglicherweise die Zertifizierung hindern. Sind alle Faktoren normkonform, so erteilt das Gutachterteam wiederum auf der Basis eines i.d.R. ausführlichen Berichts mit Hinweisen, ggfls. Auflagen, zur Optimierung der Planung bzw. Konzeptionierung die Empfehlung zur Erteilung der Konformitätsbestätigung. Diese erfolgt in einem weiteren Schritt durch DIN CERTCO.

Die Zertifizierung wie auch die Präzertifizierung nach der DIN 77800 wirkt so als Instrument zur Schaffung und Gewährleistung von Qualität im Betreuten Wohnen. Das Zertifikat „Betreutes Wohnen – DIN geprüft“ schafft für die Verbraucher Entscheidungssicherheit, für Investoren und Assetmanager schafft sie werbewirksame USP’s bei Verkauf und Vermietung, finanzierenden Banken gibt sie Sicherheit bei Finanzierungsentscheidungen.

3. Ziele und immobilienwirtschaftliche Relevanz der DIN 77800 und der Zertifizierung
Derzeit existieren in der Bundesrepublik Deutschland laut Sachverständigenkommission etwa 4.000 Senioren-Wohnprojekte mit rund 200.000 Wohnungen. Von diesen Wohnobjekten sind schätzungsweise bis zu einem Viertel eindeutig dem Typus „Betreutes Wohnen“ zuzuordnen und fallen demnach in den unmittelbaren Einflussbereich der DIN 77800. Darüber hinaus existiert eine Grauzone von Senioren-Wohnimmobilien, welche zwar gebäudespezifisch seniorengerecht entwickelt und erstellt wurden, die ihren Bewohnern jedoch nur ein rudimentäres Dienstleistungsangebot bieten[xx].

Grundsätzlich ist das Angebot an Seniorenwohnungen in Deutschland im Verhältnis zur Gesamtanzahl vorhandener Wohneinheiten noch vollkommen unterrepräsentiert und beträgt ca. ein halbes Prozent am Gesamtbestand[xxi]. Darüber hinaus führte der allgemeine Rückgang der Bautätigkeit in den letzten zehn Jahren zu einer Halbierung der Wohnbaufertigstellung, so dass sich Deutschland im europäischen Vergleich zum Schlusslicht entwickelt hat. Getragen wurde diese Entwicklung sicherlich zum Teil durch die konjunkturelle Schwäche und die damit einhergehende Investitionszurückhaltung. Weiterhin waren aber auch die Prognosen hinsichtlich einer langfristigen Bevölkerungsabnahme sowie die teilweise dramatischen Leerstandsraten in den neuen Bundesländern (beispielsweise in 2003: 0,97 % Wohnungsleerstand in Baden Württemberg versus 10,2 % in Sachsen-Anhalt) ursächlich für diese Entwicklung. Die Investitionszurückhaltung der letzten Jahre bei Seniorenwohnimmobilien wurde vornehmlich durch zum Teil negative Erfahrungen betreiberorientierten Immobilieninvestments geschürt. Falsche Investitionsstandorte, Fehlannahmen im Rahmen der Projektierung, inpraktikable Gebäudestrukturen als auch die Verpachtung an unprofessionelle Betreiber führten vielfach zu notleidenden Investments und ließen die Investitionsbereitschaft erkalten.

Die aktuellen demographischen Prognosen, die seit etwa zwei Jahren kursieren und unter anderem die Zunahme der Menschen über sechzig Jahre in der Bundesrepublik Deutschland von aktuell etwa 19 Mio. auf rund 23 Mio. in 2020 bzw. 25 Mio. in 2050 vorhersagen[xxii], schaffen wider Erwarten einen gegensätzlichen Trend.

Vor diesem Hintergrund erfährt die Wohnimmobilie, speziell die Senioren-Wohnimmobilie, insbesondere für institutionelle Anleger eine Renaissance.
Seit Mitte 2006 ist bei Immobilienfonds, Seniorenresidenz-Betreibern als auch Kapitalanlegern aus der Bank- und Versicherungswirtschaft eine ungebremste Investitionseuphorie in Seniorenimmobilien zu verzeichnen, die zu einer regen Neuprojektierung von Seniorenimmobilien, speziell von Projekten des Betreuten Wohnens, führt. Vor diesem Hintergrund benötigen Immobilieninvestoren, Planer, Banken sowie Financiers gerade jetzt zur Sicherung der langfristigen Nachhaltigkeit ihrer Investments klare und eindeutige Qualitätsvorgaben.

Die DIN 77800 ist der erste bundesweit gültige Qualitätsstandard für das Leistungsbild „Betreutes Wohnen“, der sämtliche Leistungskomponenten – insbesondere die des Gebäudes als auch des Betriebs - umfasst. Investoren, Planer, Banken und Financiers wird somit sowohl im Rahmen der Projektierung als auch im Rahmen des Immobilienerwerbes ein Kontrollinstrumentarium respektive -zertifikat an die Hand gegeben, welches ähnlich des KFZ-TÜVs, diagnostiziert, ob das anvisierte Projekt bzw. das zu erwerbende Objekt erforderliche Mindeststandards erfüllt und damit langfristig wettbewerbsfähig sein wird.

Darüber hinaus wird der Seniorenimmobilienmarkt, speziell der Markt des Betreuten Wohnens, auch für den Nachfrager transparenter. Bislang existierten vielfältige, uneinheitliche und regional wirkende, so genannte Qualitätssiegel, die für den Nachfrager bei seiner Suche nach dem für ihn „optimalen“ Seniorenwohnobjekt keine wirkliche Hilfestellung boten und es nicht eindeutig ermöglichten, am Markt befindliche „Mogelpackungen“ zu erkennen. Nachfrager als auch Investor können nunmehr gewiss sein, dass Objekte des Betreuten Wohnens, welche sich der Prüfung nach der DIN 77800 unterzogen haben und das Zertifikat tragen, nicht nur hinsichtlich ihrer gebäudespezifischen Erfordernisse, sondern gezielt auch hinsichtlich ihres Dienstleistungsangebotes die seitens der Norm formulierten Mindestanforderungen erfüllen.

Diese Mindestanforderungen dienen ferner den Betreibern als fester Orientierungsmaßstab, dauerhaft das Dienstleistungsangebot und die damit einhergehenden Grundvoraussetzungen auf einem kontinuierlichen Level zu halten, vorgeschriebene Bewohner-Informationspflichten zu erfüllen und die Umsetzung vertraglicher Gestaltungsaspekte zu gewährleisten. Sollten Betreiber diese aus der Norm resultierenden Anforderungen nicht uneingeschränkt einhalten, so wird das Zertifikat nicht erteilt oder aberkannt. Ein Immobilieneigentümer/-verpächter wird dies zum Anlass nehmen, sich etwa bei Betreibermodellen aus dem Pachtverhältnis mit dem Betreiber zu lösen und nach einem neuen Betreiber zu suchen. Derartige Erfahrungen werden bereits mittelfristig dazu führen, dass Pächter bzw. Betreiber seitens ihrer Verpächter zur strikten Anforderungserfüllung der DIN 77800 pachtvertraglich gezwungen werden. Sollte die Anforderungserfüllung der DIN 77800 nicht gewährleistet werden, drohen Sanktionen oder gar eine außerordentliche Vertragskündigung. Im Umkehrschluss werden Pächter/Betreiber diese Erfordernisse hinsichtlich der gebäudespezifischen Voraussetzungen seitens ihrer Verpächter fordern und sie vertraglich zur uneingeschränkten Qualitätseinhaltung verpflichten.

Vergleichbares gilt für externe Dienstleister. Wenn auch die Zertifizierung des Betreuten Wohnens freiwillig ist und Anbieter vermutlich zunächst bei oberflächlicher sowie kurzfristiger Betrachtung keinen unmittelbaren wettbewerbsorientierten Nutzen erkennen, so wird im Laufe der nächsten zwei bis drei Jahre ein Trend sichtbar sein, der aufzeigt, dass Betreute Wohnanlagen, die das Qualitätszertifikat „Betreutes Wohnen – DIN geprüft“ tragen, sich deutlich von am Markt vorhandenen Konkurrenzprodukten, die kein Zertifikat tragen, abheben werden. Insbesondere Eigner sowie Betreiber großer Seniorenimmobilien-Portfolios erkennen die Zeichen der Zeit in der Regel schneller und testen bereits heute, ein halbes Jahr nach dem Erscheinen der Norm, die Marktwirkungen, indem sie einen Teil ihres Portfolios der Zertifizierung unterziehen sowie zum Ausschluss irreversibler Fehler Neuprojektierungen unter Beachtung der neuen DIN 77800 entwickeln sowie von der Möglichkeit der Präzertifizierung Gebrauch machen. Grundsätzlich führt die DIN 77800 zu einer Erhöhung der Wohn- und Lebensqualität für die Immobiliennutzer „Senioren“ und schafft auch in dem Investitionsfeld „Betreutes Wohnen“ für alle Marktbeteiligten erstmals klare und verbindliche „Spielregeln“.

Es ist zu vermuten, dass in den nächsten Jahren von allen Marktbeteiligten eine Aufstockung der heutigen Mindestnorm und eine weitere Differenzierung in unterschiedliche, über der Mindestnorm angesiedelte Qualitätsstufen gefordert werden wird. Analog der Erkenntnisse aus der Hotelklassifizierung in Form von „Sternen“, die jedoch schwerpunktmäßig die „Hardware“ im Fokus hat und für gewöhnlich die „Software“ bzw. Dienstleistungsqualität außer Acht lässt, wäre eine auf der Basis der DIN 77800 aufbauende, weiterführende Qualitätsdifferenzierung vorstellbar, die insbesondere die Kluft zwischen „einfachen“ Wohnanlagen des Betreuten Wohnens und den „hotelähnlichen“ Service - Residenzen mit Topstandard transparent macht. Diese Weiterentwicklung der DIN 77800 macht jedoch erst dann Sinn, wenn der Seniorenimmobilienmarkt bzw. speziell der Markt des Betreuten Wohnens nahezu vollständig durchdrungen ist und die Mindestnorm DIN 77800 flächendeckend umgesetzt ist[xxiii].

4. Ausblick
In allen Wirtschaftbereichen waren klare und einheitliche Regelwerke und Vorgaben zur Qualitätssicherung meist investitionsfördernd, da sie für die Marktbeteiligten als verlässliche und berechenbare Wegweiser dienten. Somit kann auch vor dem Hintergrund obiger Erkenntnisse die Schlussfolgerung getroffen werden, dass die Anzahl an Betreuten Wohnobjekten am gesamten deutschen Wohnungsbestand deutlich zunehmen wird.

Insbesondere die demographische Entwicklung als auch die Tendenz, daß eine ambulante Betreuung von pflegebedürftigen Senioren mehr und mehr in gut eingerichteten Betreuten Wohnanlagen möglich ist, wird Nachfrager anlocken und Anbieter zu Investitionen in diesem Immobiliensegment bewegen. So wird DIN 77800 – konformes Betreutes Wohnen mehr und mehr zum Standard und die Präzertifizierung von Projekten bzw. die Zertifizierung von in Betrieb befindlichen Betreuten Wohnanlagen für die Anbieter zur wirtschaftlichen Notwendigkeit, weil sie sich im Senioren – Wohnimmobilien – Markt nur so gegenüber den insofern immer kritischer werdenden Senioren nachhaltig als Anbieter von Betreutem Wohnen mit neutral attestierter Qualität präsentieren können.

Quelle: IVD Immobilienjahrbuch 2007

[i] Dipl. Kfm. Dr. Erich Limpens ist Geschäftsführer und Rechtsanwalt Dr. Lutz H. Michel ist Mitglied des Beirats des DIS Institut für ServiceImmobilien GmbH; beide sind Mitglied des Zertifizierungsausschusses Betreutes Wohnen beim DIN Deutsches Institut für Normung e.V. bzw. der DIN CERTCO Gesellschaft für Konformitätsbewertung mbH; Dr. Lutz H. Michel ist zudem stv. Vorsitzender des Zertifizierungsausschusses und stv. Obmann des Normenausschusses, der diese Norm entwickelt hat. Beide sind DIN CERCTCO akkreditierte Gutachter für Betreutes Wohnen und haben jahrelange praktische Erfahrungen im Bereich der Beratung, Qualifizierung und Bewertung von Serviceimmobilien von Betreutem Wohnen über Pflegeheime, Hotels und hotelähnliche Immobilien. Die Autoren danken Frau Laura – Maria Kaminski für ihre Mitarbeit bei diesem Beitrag.
[ii] 11. Koordinierte Bevölkerungsvorausberechnung
[iii] Siehe dazu z.B. Michel, Challenges of the Demografic Change for the German Housing Industry, Presentation for the 11 th Annual European Real Estate Society Conference June 2nd – 5th, 2005, Milan, Tagungsdokumentation, Mailand 2005, elektronisch verfügbar als Download: http://www.radrmichel.de/frontend/?catid=801&nav=778 sowie Michel, Herausforderungen des demographischen Wandels für die deutsche Wohnungswirtschaft, Vortrag auf der 11th Annual European Estate Society Conference am 2. – 5. Juni 2004 in Mailand (Textfassung, zusammen mit Grossmann) mit weitergehenden Literaturhinweisen, elektronisch verfügbar als Download: http://www.radrmichel.de/frontend/?catid=801&nav=778
[iv] Immobilienwirtschaftliche Entscheidungen werden zunehmend „Lifecycle – bestimmt“: siehe Michel
[v] Siehe dazu die prägnante Übersicht von Limpens in seinem Referat anlässlich des 5. Dürener Immobilien Forums, elektronisch verfügbar als Download: http://www.dis- institut.de/frontend/?catid=7&nav=7
[vi] Der Normtext ist über den dem DIN-Institut angeschlossenen Beuth-Verlag (www.beuth.de) erhältlich
[vii] Zum Verfahren der Normierung und zur Rechtsrelevanz von Normen siehe
[viii] So die Definition in Ziff. der Norm
[ix] Im Folgenden wird abweichend von der Terminologie der Norm (und des HeimG) aufgrund des allgemeinen Sprachgebrauchs nicht von „allgemeinen Betreuungsleisten“ und „weitergehenden Betreuungsleistungen“, sondern von „Grundleistungen“ und „Wahlleistungen“ gesprochen
[x] Detailliert und sehr praxisbezogen dazu der von Prof. Marx (Mitglied des Normenausschusses und des Zertifizierungsausschusses „Betreutes Wohnen“) verfasste Leitfaden „Barrierefreie Wohnungen – Planungsgrundlagen“, Hrsg. Bayerische Architektenkammer / Oberste Baubehörde im Bayerischen Staatsministerium des Innern, München 2001; ferner wird verwiesen auf den Ende 2006 erscheinenden Kommentar zur DIN 18025: Hempel / Marx / Stemshorn, DIN 18025 Barrierefreies Bauen - Kommentar in Wort und Bild für den Wohnungsbau im Bestand, Hrsg. Institut für barrierefreies Planen und Bauen, Dresden, München, Ulm 2006
[xi] So Ziff. 4.3.1 und 4.3.2 der Norm
[xii] Siehe Ziff. 4.3.1 und 4.3.3 der Norm
[xiii] So Ziff. 4.1 der Norm [xiv] Siehe Ziff. 4.2 der Norm
[xv] Ziff. 4.2.1.6.2 der Norm
[xvi] Es kommen neben der Miete genossenschaftliche Nutzungsverhältnisse, Nießbrauch, Teileigentum, möglicherweise auch „time sharing“ in Betracht
[xvii] Hierzu trifft die Norm keinerlei Aussagen; sein Inhalt ist die Herstellung langfristiger Stabilität des Leistungsbildes „Betreutes Wohnen“, indem die Konnexität beider Leistungsbilder geschaffen wird
[xviii] So Ziff 4.5 der Norm
[xix] Download unter: www.dincertco.de/ .....
[xx] Siehe bereits oben Fn. 5
[xxi] Eigene Abschätzung des DIS – Instituts auf der Basis der Erhebungen des Statistischen Bundesamtes und der wohnungswirtschaftlichen Verbände
[xxii] Nachweise siehe Fn. 2, sowie Birg, ......
[xxiii] Entsprechende Überlegungen werden aufbauend auf dem Kriterienkatalog ServiceWohnimmobilien der gif – Gesellschaft für immobilienwirtschaftliche Forschung e.V. aktuell vom Arbeitskreis ServiceImmobilien der gif geprüft